Fliegen ohne landen
Eine gängige Redewendung unter Pilotinnen und Piloten lautet: „Fliegen heißt landen“. Denn die sichere Landung gehört zum Wesen der Fliegerei. Eher nach dem Motto „Runter kommen sie alle“ funktionieren hingegen die sogenannten Kamikaze-Drohnen. Spätestens seit dem russischen Angriff auf die Ukraine ist das Prinzip der „fliegenden Sprengsätze“ zum schrecklichen militärischen Standard geworden. Und mit der sogenannten Loitering Munition verschwimmt die Grenze zwischen Marschflugkörper und UAS vollends.
Von Jan Schönberg
Zweimal versuchte der mächtige Mongolenfürst Khublai Khan im 13. Jahrhundert, das heutige Japan einzunehmen. Doch zweimal sorgten der Überlieferung nach mächtige Stürme dafür, dass die Invasoren entscheidend zurückgeworfen wurden. Im Japanischen gibt es eine eigene Bezeichnung für diese scheinbar von höheren Mächten entfachten „göttlichen Winde“: Kamikaze. Hunderte Jahre später wurde aus dem religiös-nationalistisch aufgeladenen Begriff das Synonym für eine selbstzerstörerische Angriffstaktik. Und während sich im Zweiten Weltkrieg noch menschliche Piloten mit Ihren Flugzeugen ins Verderben stürzten, wurden in den 1980er-Jahren die ersten unbemannten „Kamikaze-Drohnen“ entwickelt. Die israelische Harpy gilt hier gewissermaßen als stilbildend. Mittlerweile sind es aber insbesondere die iranischen Shahed-Drohnen, die das Bild und den zumindest in der Zivilbevölkerung zweifelhaften Ruf dieser UAS-Gattung prägen.
Weniger Auflagen
Wobei die von Israel Aircraft Industries (IAI) entwickelte Harpy im Grunde gar kein unbemanntes Flugsystem war. Denn eigentlich handelte es sich dabei bereits um einen frühen Vertreter der Gruppe der Loitering Munition. Diese nach dem englischen Verb „to loiter“ als herumlungernde Munition bezeichneten Flugsysteme sind im Zuge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine verstärkt in den Fokus der Öffentlichkeit geraten und werden dabei häufig mit den „Kamikaze-Drohnen“ nach Shahed-Vorbild gleichgesetzt. Streng genommen handelt es sich dabei – zumindest nach dem Verständnis der Bundeswehr – jedoch nicht um ein Luftfahrzeug. Da sie zum einmaligen Gebrauch ausgelegt ist und wie ein Marschflugkörper verschossen wird, gilt Loitering Munition im militärischen Sinne tatsächlich als Munition. Was ein bisschen nach Wortklauberei klingt, hat bei genauerem Hinsehen durchaus Konsequenzen. Zumindest in Deutschland. Genauer gesagt für das deutsche Beschaffungswesen. Denn bei unbemannten Luftfahrzeugen werden hinsichtlich der Flugsicherheit und der Zertifizierung des Personals deutlich höhere technische Anforderungen gestellt als bei Munition. „Durch die Klassifizierung als Munition kann Loitering Munition kostengünstiger, einfacher sowie unter weniger Auflagen hergestellt und eingesetzt werden als unbemannte Luftfahrzeuge“, heißt es dazu auf der Website der Bundeswehr.
Künstliche Intelligenz
Allerdings gibt es durchaus auch in der Praxis Unterschiede zwischen Kamikaze-Drohnen, die als gesteuerte Sprengsätze mit klarem Ziel auf die Reise geschickt werden, und der Loitering Munition. Diese ist darauf ausgelegt, zum Teil über mehrere Stunden in einem Gebiet zu kreisen („herumzulungern“), um dann nach Sichtung eines potenziellen Ziels – zum Beispiel eines feindlichen Panzers – eingesetzt zu werden. Gegenüber den zudem deutlich teureren Marschflugkörpern und Raketen bietet das den Vorteil, sehr kurzfristig und punktuell auf aktuelle Ereignisse reagieren zu können. Denn wagt sich ein feindlicher Panzer aus der Deckung, ist die Loitering Mission bereits vor Ort. Gegenüber Artilleriegranaten kann die Loitering Munition ebenfalls mit erhöhter Präzision, aber auch mit der in der Regel deutlich größeren Reichweite punkten.
Einfache FPV-Drohnen, die mit Sprengsätzen bestückt eine beeindruckende Wirkung haben können: Was kurz nach dem russischen Angriff mit provisorisch umgebauten Racing-Drohnen begann, ist mittlerweile zu einem lukrativen Geschäft geworden, indem ukrainische Unternehmen führend sind
Kritiker von Loitering Munition, die mit KI-Software und automatischer Zielerfassung versehen ist, führen völkerrechtliche und ethische Bedenken an. Denn mit Hilfe der Sensorik an Bord sind die Systeme in der Lage, selbständig potenzielle Ziele ausfindig zu machen – und dem Operator im Gefechtsstand „vorzuschlagen“. Zwar obliegt die Entscheidung über einen tatsächlichen Angriff den verantwortlichen Soldatinnen und Soldaten. Der Schritt zu tatsächlich autonomen Waffensystemen ist an dieser Stelle aber natürlich nicht mehr sonderlich groß. Doch unabhängig davon, wie man über den Einsatz unbemannter militärischer Wirkmittel denken mag, lässt sich diese Entwicklung nicht mehr rückgängig machen. Sie sind längst Teil des militärischen Alltags, wie nicht zuletzt die Meldungen aus der Ukraine tagtäglich belegen. Drohnen für die unterschiedlichsten Anwendungszecke sind daher das, was der Panzer vor gut 100 Jahren war: Ein Gamechanger in der internationalen Sicherheitsarchitektur.
ISR-Missionen
Neben der Verwendung als militärische Wirkmittel kommen Drohnen wie die Luna von Rheinmetall (Foto) bei Streitkräften und Sicherheitsbehörden vor allem für sogenannte ISR-Missionen (Intelligence, Surveillance, Reconnaissance) zum Einsatz. Die Betrieb mit dem Grundgedanken, nach erfolgreicher Mission wieder zu einem geplanten Zielort zurückzukehren und dort sicher zu landen, entspricht dabei tendenziell eher den auf Nachhaltigkeit ausgelegten Grundanforderungen an ein Luftfahrzeug.
Titelbild: Stark